Gestern waren wir bei unserem Stammitaliener zum Mittagessen. In einem Lokal, mit anderen Menschen. Vertrautes Personal, gewohnte Herzlichkeit trotz Mundschutz und verordnetem Abstand. Am Abend dann als erste Nachricht um 20 Uhr in der Tagesschau ein Thema, das nichts mit Corona zu tun hat.

Zerstreuungsmomente, Lockerungsnischen nach neun zermürbend monothematischen Lockdown-Wochen. Keine unserer raren Menschenbegegnungen, die nicht das Virus und dessen Auswirkungen auf das Leben zum Mittelpunkt hatte. Als wäre es nicht ohnehin Mittelpunkt des eigenen Alltags.

Unsere Realität in Woche neun: Die kleinste Tochter hat Fahrradfahren gelernt, die mittlere erledigt Einkäufe bemerkenswert selbständig und die älteste wird in der Lage sein, die Welt vor Corona von der danach zu unterscheiden. Weitere Errungenschaften dieser Zeit? Corona-Fussballspiele am Sonntagabend. Erst im kleinen Kreis mit einem unverzagten zweiten Bezugshaushalt. Inzwischen aufgelockert, beinahe in so etwas wie Teamstärke.

Und darüber hinaus? Bleiben vor allem Widersprüche und Fragen. Ist die komplexeste Krise, die wir allesamt erleben, tatsächlich nur durch stetige Komplexitätsreduktion begreifbar? Wäre es nicht wahrhaftiger und womöglich sogar tröstlich, zu versuchen, all das darzustellen, was dieses Virus zugleich zu bewirken vermag? Gab es nicht Alternativen zur kategorischen Alternativlosigkeit? Und ist Auf-Sicht-Fahren tatsächlich eine Strategie, oder beschreibt diese nebulöse Metapher nicht vielmehr deren Abwesenheit.

Die Unterschiede im Erleben dessen, was uns doch vor allem gleichermaßen betroffen und solidarisch fühlen lassen sollte, sind riesig. Die Linien verlaufen in vier zentralen Dimensionen, die das Leben mit Corona entweder besorgniserregend, überfordernd, gar fundamental bedrohlich machen oder eben nur nervig, verzichtsreich, gar weitestgehend unbeeinflusst.

  1. Existenzielle Not oder Verschärfung der vorhandenen
  2. Kleine und zu beschulende Kinder oder zu versorgende nahestehende Menschen
  3. Angst vor der Infektion, vor Pflegebedürftigkeit, wegen Einsamkeit
  4. Welches Geschlecht man hat

Wir sind Frauen mit kleinen Kindern. Ohne wirtschaftliche Not. Ohne konkrete Angst vor der Krankheit. Aber mit Angst vor den Entwicklungen, die diese Krise beschleunigen. Mit Wut über die Verstärkung der Ungleichheiten. Über die fehlende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen dieser Zeit auf Kinder. Mit Sorge, ob der drohenden Rückschritte in der Gleichstellung von Frauen in allen Lebens- und Entscheidungsbereichen.

Wir erleben diese Krise in verschiedenen Rollen und es ist unser Anspruch, der Größe dieser Herausforderung unter Berücksichtigung ihrer Komplexität zu begegnen. Wir befolgen Regeln zum eigenen Schutz und dem anderer. Und zugleich erwarten wir eine sehr viel größere Differenziertheit in den Analysen und Maßnahmen.

Wir erleben diese Krise als Eltern, die sich bewusst für eine aktive Rolle des staatlich organisierten Betreuungs- und Schulsystems bei der Erziehung unserer Kinder entschieden haben. Wir sind lausig im Basteln, aber redlich bemüht, die Kinder beim Erfüllen ihrer Aufgaben zu begleiten. Wir machen täglich Sport, verfügen über ausreichend technische Geräte, um die Kinder an der digitale Beschleunigung dieser Zeit teilhaben zu lassen, und sind großzügiger als normalerweise mit On-Screen Zeiten und Süßigkeiten. Trotzdem: Unsere Kinder wollen in die Schule und in die Kita. Sie wollen mit ihren Freunden sein, sie wollen mit Menschen lernen, die sie für diese Aufgabe kennengelernt haben. Sie brauchen ihren eigenen Raum. Homeeverything war von uns nicht als Modell gewählt und entspricht weder uns noch unseren Kindern. Das deutsche Bildungssystem hat sich in seiner digitalen Rückständigkeit und seinem Föderalismus als Katastrophe erwiesen. Die Verantwortung für unsere Kinder wurde an die einzelnen Schulen oder vielmehr an einzelne Lehrkräfte delegiert. Die Frage, wie engagiert, wie empathisch, wie digital die jeweilige Lehrerin ist entscheidet ebenso über das Erleben dieser Zeit wie die der Ausstattung der Eltern. Ihr Integrationsstand. Die fehlenden Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten gehen zu Lasten von ohnehin benachteiligten Kindern und Familien. Dazu kommen steigende Gewalt und psychische Belastungen. Das alles ist inzwischen auch in Studien nachgewiesen. Und doch ist bezeichnend, dass die Bundesfamilienministerin dem Corona-Kabinett der Regierung (immer noch) nicht angehört.

Als Digitalexpertin, die sich seit Jahren für eine Beschleunigung der wertstiftenden Aspekte der Digitalisierung engagiert. Aus Liebe zur Zukunft steht häufig am Ende meiner Reden. Weil ich daran glaube, dass Digitalisierung unsere Welt besser gemacht hat und in Zukunft besser machen wird. Weil es keine Frage ist, ob man technische Entwicklung will – sie ist ohnehin schon da –, sondern wie wir sie gestalten. In der Vergangenheit vor allem zu langsam. Dann Covid-19: In den vergangenen beiden Monaten wurden Themen nicht nur angegangen, sondern umgesetzt, die in der üblichen Geschwindigkeit Jahre in Anspruch genommen hätten. Unsere Kommunikation hat sich radikal verändert. Das beeinflusst nicht nur unser Arbeitsleben, sondern auch die zukünftige Mobilität. Der Konsum ist noch stärker digitalisiert und es sind Menschen gezwungener Maßen digital geworden, die vorher nicht wollten oder nicht konnten. Das Erfassen von Daten und ihre Analyse ist ein wesentliches Element in der Bewältigung dieser Krise. Wir alle sind geschult worden in Exponentialfunktionen und Statistik. All das wird nicht mehr zurückzudrehen sein. Und doch erfordert gerade die erhöhte Geschwindigkeit eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit den Folgen. Die Digitalisierung wird Jobs kosten. Und neue schaffen. Das war immer klar. Aber wir sind davon ausgegangen, dass wir für diese schwierige Transition Zeit haben, dass wir die Folgen für den einzelnen gestalten können. Diese Zeit ist nicht mehr da. Sie wird Unternehmen noch weiter unterscheiden, in solche, die Change erleben, und solche, die Change managen – solche, die ihr Geschäftsmodell mit den digitalen Möglichkeiten verbinden, und solche, die wie Dinosaurier aussterben werden. Wie für die gesamte Krise gilt auch für diesen Teilaspekt, es braucht eine Perspektive, ein Ziel. Dem voran steht die Analyse des Status, das Bewusstsein für die Möglichkeiten und das Bekenntnis zum Handeln. Am besten für ein gemeinsames, europäisches Digitalmodell. Aus Liebe zur Zukunft.

Als Frauen, die wir den Blick richten auf diejenigen Frauen, die die Hauptlast dieser Krise tragen. Frauen sind nicht nur ökonomisch benachteiligt und mit den Anstrengungen eines ohne Unterstützung zu gestaltenden Familientages belastet. Auch das ohnehin vorhandene Defizitgefühl in Bezug auf Teilhabe wird durch die Krise verstärkt, weil es oft Frauen sind, die nun von Teilzeit auf Nullzeit gehen. Weil es Frauen sind, die jetzt nicht durchstarten können, um die Krise als Aufstiegschance zu nutzen, sondern die Homeeverything am Laufen halten oder Überstunden in Pflege und an der Kasse leisten, situativ beklatscht, aber nicht nachhaltig anerkannt. Es sind individuelle Ungerechtigkeiten und systemische Zementierungen, die jetzt geschehen. Wir wehren uns dagegen, dass über Jahrzehnte mühevoll erreichte Fortschritte in der Gleichberechtigung binnen Wochen zurückgesetzt werden und dass der Weg zur Gleichstellung von Frauen in Verantwortung durch die reflexhafte Rückkehr zu tradierten Machtstrukturen und männerdominierten Führungskultur verlangsamt wird. Im Krisenmodus etablierte Arbeitsmodelle wie Homeoffice und die Reduktion von Dienstreisen sind nur dann familien- und damit auch frauenfreundlich, wenn sie paritätisch gelebt und vom Arbeitgeber im Sinne der Vereinbarkeit gefördert werden. Wir müssen weiter daran arbeiten, Arbeitsmodelle zu flexibilisieren und Führungspositionen in Teilzeit zu ermöglichen. 

Als politische Menschen mit sorgenvollem Blick in die Zukunft. Allabendliches Ritual sind Diskussionen über die Unbegreiflichkeiten dieser Zeit. So vieles geschieht täglich leichterdings, was wir vor kurzem noch in Europa, in Deutschland, bei Nachbarn oder Freunden für unmöglich gehalten hätten. Geschlossene Grenzen, sogar für Spaziergängerinnen zwischen Hamburg und Schleswig-Holstein. Fehlende Großzügigkeit gegenüber anderen Meinungen. Stillgelegte Produktionen im Produktionsland Deutschland. Die Betrachtung von Kindern als Virusboten. Neun Wochenenden ohne Bundesligafußball. Manches mehr.

Die geopolitischen Verschiebungen haben eine neue Zeitrechnung eröffnet. Die Welt fragmentierte sich immer mehr, globale Institutionen, die WHO, WTO, die UN verlieren an Bedeutung, Nationalismus nimmt weiter zu, Europa verliert an Zusammenhalt, USA und China forcieren den Konflikt um die Weltmacht.

Zugleich sind all die Herausforderungen, die vor der Krise schon da waren wie der Schutz der Demokratie, die Bekämpfung des Klimawandels, die Verrohung der Sprache und des Umgangs, die Neigung zur Vereinfachung von Sachverhalten noch immer da und mindestens so wichtig. Nur drohen sie an Aufmerksamkeit, an Bedeutung zur verlieren.

Wir sind der festen Überzeugung, wir können diesen neuen, komplexen Anforderungen nicht mit alten Herangehensweisen begegnen. Es braucht die Bereitschaft zur Veränderung und die Lust an der Kooperation. Komplexe Probleme erfordern verschiedene Expertisen und Perspektiven. Es braucht mehr Diversity, die der Differenziertheit der Situation angemessen ist. Der einfachste Weg zu mehr Diversity: mehr Frauen in Führung, wir sind mehr als die Hälfte.

Was wir gesehen haben

Die Protestaktion: Corona Eltern rechnen ab (https://phoenix-frauen.de/coronaelternrechnenab/ oder https://mama-notes.de/protestaktion-corona-eltern-rechnen-ab/) – eine von mehreren Frauen initiierte Aktion, die dazu aufruft, die erbrachte Fürsorgearbeit, insbesondere Kinderbetreuung und Homeschooling, dem Staat in Rechnung zu stellen. Nicht Applaus oder ein mediales Danke durch irgendwen, sondern Euros für die erbrachte Leistung.

Die Aktion hat uns beeindruckt, weil sie einfach zu verstehen bzw. klar zu kommunizieren ist, weil sie pragmatisch zu Ende gedacht ist (es gibt einen Rechnungsdummy zum Runterladen und die jeweils zuständigen Kultur- bzw. ArbeitsministerInnen sind auch verzeichnet), aber vor allem, weil sie auf einer durchdachten systemischen Analyse basiert: Frauen leisten einen ganz wesentlichen Entlastungsbeitrag für den Staat mit homeeverything und gleichzeitig erhalten sie kaum Unterstützung, weder faktisch noch fiskalisch. Sie werden nicht gefragt, wenn es darum geht, Maßnahmen zu entwickeln, wie Schulen oder Kitaswieder geöffnet werden, so dass es die Belange von Kindern und Eltern berücksichtigt und nicht nur Hygienekonzepte befriedigt, die eher wie Freigangsverordnungen anmuten.

In ihrer Analyse und ihrer Wut über die derzeitige Lage und die zugrundeliegende Dynamik sind sich die Frauen einig. Wir erleben einen massiven backlash: Lang und mühsam Erkämpftes wie umfassende und professionelle Kinderbetreuung, wie Anerkennung, dass Homeoffice nicht parallel geht zu Kinder- oder Hausarbeit (geschweige denn Unterricht), wie die simple Tatsache, dass es nicht Privatsache ist, sondern hochpolitisch, wie Fürsorgearbeit organisiert wird, das alles scheint mit Covid-19 um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückgedreht. Eine Krise eröffnet immer auch Chancen, um Karrieren vorwärtszubringen, um wichtige Entscheidungen zu gestalten … Aber das geht nur, wenn man teilhaben kann, und nicht, wenn die Tage einfach zu voll sind.

Dabei wäre es jetzt die richtige Zeit, neu und anders darüber nachzudenken: Was ist uns welche Arbeit wert? Was ist Fürsorge wert? Wie wollen wir Gesellschaft miteinander gestalten? Was ist wichtig, damit wir alle miteinander gut leben können? Wie sieht eine kinderfreundliche, wie sieht eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft aus und wie kommen wir dahin? Ganz konkret: Wie stellen wir sicher, dass Frauen in den nächsten Beförderungsrunden nicht alle hintenanstehen, weil ihnen jetzt die Zeit fehlt oder auch mal etwas liegen geblieben ist? Und wie stellen wir sicher, dass nicht noch massive finanzielle Probleme in betroffenen Familien dazu kommen?

Solange all diese Fragen nicht ernsthaft aufgenommen und diskutiert werden, bleibt wohl nur, sie immer wieder anzusprechen, Analysen und Studien durchzuführen und … Rechnungen zu schreiben.