Corona kommt in diesem Text nicht vor. Kein Resümee zum Jahresende, keine Analyse, keine Interpretation und auch keine Prognose, ob diese Krise eine entschleunigte, bewusste, solidarische Gesellschaft hervorbringt, oder ob die beschworenen Dystopien Wirklichkeit werden.

Wir haben viele interessante Einordnungen gelesen und empfangen zahlreiche sehr persönliche, teils resignierte, teils humorige Bilanzen dieses Jahres. Selten hat ein Thema die Menschen so vereint und den Alltag aller mit seinen Einschränkungen dominiert. Ein Thema für alle und doch so vielfältig in seinen Auswirkungen und -trotz aller Beschäftigung damit- zu selten in dieser Differenziertheit diskutiert.

Zugleich bekam manch bedeutende Errungenschaft dieses Jahres nicht die angemessene Aufmerksamkeit:

  • Die EU hat erstmals in ihrer Geschichte gemeinsame Schulden aufgenommen – ein bislang unvorstellbarer Schritt in Richtung Fiskalunion.
  • Good Governance wird zunehmend zur Grundlage der Purpose Diskussionen von Unternehmen und das Erreichen der ESG Ziele ein Kriterium bei der Beurteilung für Investoren und den Finanzmarkt.
  • Deutschland ist aufgewacht und beginnt mit der bevorstehenden Einführung der Frauenquote in Vorständen eine unerklärliche Lücke im internationalen Vergleich zu schließen. Diese Entscheidung hat eine kraftvolle Signalwirkung und die Suche nach entsprechenden Kandidatinnen wird viele großartige Frauen endlich ins rechte Licht rücken.

Und 2021? Wir wählen eine neue Kanzlerin, es folgt ein neues Kabinett, fünf Bundesländer entscheiden im nächsten Jahr über ihre zukünftigen Führungskräfte, vier weitere in 2022. Das bedeutet auch hier: jede Menge neues Spitzenpersonal.

Wenn es stimmt, dass eine Gesellschaft ihre jeweiligen Entscheidungsträger*innen prägt, bzw. umgekehrt, dass politische Entscheidungsträger*innen eine Gesellschaft spiegeln, dann ist die zentrale Frage: welche Entscheidungsträger*innen erwarten uns jetzt, da unsere Gesellschaft so sehr im Wandel ist? Was sind unsere Erwartungen an diese Funktionen, an die Menschen, die sie ausfüllen? Nach welchen Kriterien werden sie bewertet, abgewogen, für tauglich befunden? Welche Rolle spielt die Zeit, der Kontext – und vor allem, die tatsächliche Aufgabe? Wer ist überhaupt in der Lage, die Profile zu definieren und die Aspirant*innen zu beurteilen?

In der Regel sind es persönliche Sympathie oder Missfallen, überholte Glaubenssätze und ein Denken in abgrenzenden Zuordnungen, die den einen wählbar machen oder so richtig eigentlich niemanden. Oft wird, gerade in Bezug auf Politiker*innen, mit Moral argumentiert. Gerade in unseren heutigen Zeiten, in der Verantwortungsträger*innen bis in die hinterste Eckes ihres Seins ausgeleuchtet sind, oder selbst den Scheinwerfer auf sich richten. In der wenig Raum bleibt für Diskretion, Phantasie, Privatheit und damit für Respekt.

Doch Durchleuchtung ist nicht gleich Transparenz. Und das Mehr an Informationen geht nicht einher mit zunehmender Großzügigkeit oder Differenziertheit in der Bewertung. Kennen wir es dabei nicht aus unserem Privaten: wie wichtig die Fähigkeit der Einordnung ist, je besser wir einen Menschen kennen.

Welche moralischen Kategorien legen wir Mandatsträger*innen zugrunde, im Sinne der Glaubwürdigkeit? Bedarf es einer ausgestellten Moral, um Zukunft auf eine Weise zu gestalten, die die Herausforderungen dieser Zeit ernst nimmt? Und gibt es eine Steigerung von Moral? Dürfen Klimaaktivist*innen in Flugzeuge steigen, Ski fahren oder Fleisch essen? Dürfen grüne Politiker*innen ein Tempolimit fordern und selbst zu schnell auf der Autobahn fahren oder Geflüchteten aus Seenot helfen und dennoch teure Restaurants besuchen? Kann man für die Abrüstung sein und trotzdem fordern, dass Soldat*innen die bestmögliche Ausrüstung haben?

Im Auge des Betrachters ist es oft ein kurzer Weg vom einmaligen Fehlverhalten, von einem schwachen Moment zur systematischen Täuschung, Charakterschwäche und fehlender Eignung. Und doch bleibt das eine das eine und das andere das andere bis die Grenze überschritten wird.

Wir wollen Führungskräfte die menschlich sind, aber wir gestehen ihnen menschliches Verhalten nicht zu, suchen nach Doppelmoral und freuen uns über den vermeintlichen Fehltritt. Die Ungnade des Shitstorms ist ihnen sicher. Aber menschlich sein heißt, schwache Momente zu haben und Fehler zu machen. Persönlichkeit ist, wie man damit umgeht. Wir reden so oft von Fehlerkultur, aber um sie zu leben brauchen wir als Gesellschaft die Bereitschaft zur Differenziertheit, Verzeihlichkeit und auch Mut zum Risiko.

Es ist an der Zeit, den Anspruch an unsere Entscheidungsträger*innen neu zu bestimmen. So, wie wir die gesamte Arbeitswelt gerade neu definieren, eine neue Ethik der Verantwortung gestalten. Mit Führungskräften, die sich ihrer Rolle bewusst sind. Die Integrität ganz selbstverständlich über Autorität stellen. Die Entscheidungen im besten Sinne treffen und dennoch mitunter falsch liegen.

Denn damit entscheiden wir, eine andere Kultur zu prägen: Zwischentöne zu ermöglichen, bei medialer Eskalation weiter zu atmen. Uns im besten Fall ein eigenes Bild machen, vor der Verurteilung. Nicht immerzu nach Bestätigungen suchen, für das eigene (Vor)Urteil.

Wenn wir keine Kriterien festlegen, uns nicht auf Maßstäbe einigen, gedeiht weiterhin die Willkür. Denn auch im umgekehrten Sinne ist oft fraglich, warum Vergehen nicht geahndet werden, gerade wenn sie eben nicht einzelne Fehler sind, sondern tatsächlich vieles über eine Persönlichkeit und deren Eignung aussagen. Weil gerade keine Zeit ist für Empörung? Kein Platz für den Aufmacher? Oder weil bestimmte Formen der Skrupellosigkeit längst nicht mehr geahndet werden?

Die Digitalisierung mit ihren Plattformen (und den dahinter liegenden Aufmerksamkeits-Geschäftsmodellen) hat unser gesellschaftliches Miteinander verschoben, verändert, aus dem Gleichgewicht gebracht. Denn es gibt bei all der Kommentierungswut keinen Diskurs, der sich ernsthaft mit der Haltung des Gegenübers beschäftigt – kein Abwägen, keinen Ruhe- und Nachdenklichkeitsraum.

Wenn wir neue Führungskräfte wollen, die entschlossen und kooperativ die vor uns liegenden Herausforderungen angehen, sind wir es, die ein Umfeld schaffen müssen, in dem sie sich willkommen fühlen. In dem sie mit Vertrauen und Handlungsspielraum ausgestattet sind. Sie verdienen einen offenen Blick und einen fairen Maßstab bei der Betrachtung ihres Wirkens. Vielleicht sogar den, den wir uns für unser eigenes Verhalten zugrunde legen. Nur dann werden wir mehrheitlich diejenigen bekommen und behalten, die empathisch sind und durchlässig bleiben, die integrativ sind, die verschiedene Herangehensweisen zusammenbringen, damit die besten Lösungen für uns alle entstehen. Solche, die agil vorgehen können, ausprobierend, lernend, korrigierend. Menschen unserer Zeit also. Die wiederum maßgeblich unsere Gesellschaft, unseren Arbeitsalltag, unser Miteinander und unsere Verhaltensmöglichkeiten beeinflussen.

Welche Entscheider*innen wir haben, liegt an uns.

Was wir gesehen haben (und uns immer am Herzen liegt):

Joni Seagers „Frauenatlas“, den es seit 1987 gibt – seit diesem Jahr auch auf Deutsch. Joni Seager ist Geographin und sie zeigt mit 164 Infografiken und Karten die Situation von Frauen in verschiedenen Lebensbereichen rund um die Welt auf – Bildung, Arbeit, Gesundheit und einige mehr. Sie lässt Daten sprechen, zeigt die Fakten beeindruckend plastisch und schnell erfassbar auf. Die beeindruckende Visualisierung, die Kartierung zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Welt auf, vor allem aber die noch immer herrschende Ungleichheit.

Klar und deutlich zeigt das zusammenfassend der jährlich von der OECD veröffentlichte Sozialinstitutionen- und Gender-Index, der misst, wie stark Frauen aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihren Ländern diskriminiert werden: Nur 38% aller Frauen weltweit sind von sehr geringer oder geringer Diskriminierung betroffen – fast ebenso viele von starker oder sehr starker (Daten von 2014).

Weltweit wird der Gendergap im Bildungsbereich wahrscheinlich um das Jahr 2030 geschlossen sein. Aber der Gendergap im Bereich der wirtschaftlichen Teilnahme und Teilhabe wird, beim derzeitigen Tempo, wohl weitere 217 Jahre bestehen bleiben.

Und der Atlas zeigt auf, wo wie Lage besonders schlimm ist, er kartographiert die Welt neu – aus Sicht der Frauen. Und, um es mit Seagers Worten zu sagen: „Auf der Weltkarte der Frauen gibt es nur wenige »entwickelte« Länder. Angesichts der Erfahrungen von Frauen weltweit stellen sich Fragen nach der Richtigkeit herkömmlicher Unterscheidungen zwischen »entwickelten« und »unterentwickelten« Ländern.“

Ein kraftvolles Buch – es lässt die Fakten sprechen, benutzt Daten und Visulisierung, es nimmt vorbehaltlos die Sicht von Frauen ein, es lädt zum Stöbern ein, zum Nachdenken und Fragen stellen und es fordert auf: Lasst uns nicht zufrieden sein mit dem erreichten, lasst uns nicht zufrieden sein bis wirkliche Gleichheit erreicht ist – für alle.