Kürzlich sollten wir ein Statement für die begleitende social media Kampagne einer Veranstaltung abgeben – maximale Länge 250 Zeichen (inkl. Leerzeichen). Beim Formulieren des Extraktes wird schnell klar, wie unzulänglich die Reduktion ist, in Anbetracht all des Grundsätzlichen, das in dieser Zeit unser Herz und unsere Gedanken beschäftigt.

Diese Unsitte der maximalen Verkürzung bestimmt längst nicht mehr nur die Welt der sozialen Medien. Auch in unserem Alltag dominiert die Neigung zur Komplexitätsreduzierung, die Unlust am Doppelklick, die Abkehr von Differenzierung. Gesellschaftsgrundierende Zukunftsthemen im Elevator-Pitch, Widerspruch ist höchstens ein Stilmittel und der Diskurs Zeitverschwendung. Gern übernehmen wir das Bild, das uns in der Kürze so eindeutig vermittelt wird und lassen uns in unserer Meinungsbildung nicht durch einordnende Informationen oder andere Perspektiven stören.

Die fehlende Differenziertheit bewirkt auch eine surreale Überhöhung oder Verkleinerung von öffentlichen Personen, insbesondere von Politiker*innen. Dieser Wahlkampf führt es uns drastisch vor Augen. Menschen, die eines der verantwortungsvollsten Ämter unseres Landes übernehmen sollen (und sich dazu bereit erklären!) werden in Formate gezwungen, deren einziger Sinn die Dekonstruktion der Kandidaten ist. Um ihnen danach fehlendes Format zu attestieren.

Die brachiale Be- und Abschreibung von Menschen ist um so grotesker, wenn man sich die Willkür dabei bewusst macht. Beinah jede Geschichte könnte auch andersherum erzählt, der Akzent an einer anderen Stelle gesetzt werden. Die Entscheidung, welches Gewicht eine Handlung bekommt, folgt keinen messbaren Kriterien. Und das gesetzte Bild lässt sich kaum mehr korrigieren, schon gar nicht durch Fakten. Das Spektrum wird minimiert, kein sowohl als auch, keine Farben. Wie wäre es wohl, wenn wir Entscheider*innen mit offenem Interesse und Wohlwollen begegnen? Mit Vertrauen als Grundlage, auf der die kritische Auseinandersetzung mit der Tauglichkeit der Kandidat*innen basiert.

So jedenfalls lassen wir zu, oder tragen dazu bei, dass der Mensch, der unser Land anführen- und unsere Interessen in der Welt vertreten soll, zurechtgestutzt ins Amt kommt.

Warum setzt sich niemand zur Wehr, gegen diese new-normal-Respektlosigkeit? Warum kapert niemand ein Triell mit ehrlichen Antworten, setzt den Fokus auf die existenziellen Entscheidungen, die längst getroffen sein sollten und spricht aus, was eine lebenswerte Zukunft für alle von uns Einzelnen verlangt?

Weil wir es nicht wertschätzen, in die Verantwortung genommen-, oder nur daran erinnert zu werden. Weil wir nicht akzeptieren, dass eine unsachliche Frage unbeantwortet bleibt. Weil wir vor allem die Form bewerten, Hosentaschenhände, Rauten, Stimmlagen, und nicht die Eignung für eine Aufgabe (dafür müssten wir uns ein präzises Bild über die Aufgabe machen). Weil wir uns um vermeintliche Verfehlungen drehen, ohne Maß und Verhältnismäßigkeit. Weil es leichter ist und vermutlich schneller Orientierung gibt. Und weil es sich auch prima weitererzählen lässt.

Natürlich ist es wichtig, Dinge einfach zu kommunizieren. Doch die uns zur Zeit bedrängenden großen Fragen sind nicht nur groß, sie sind auch extrem komplex (also, bestehen aus verschiedenen Komponenten oder Sub-Systemen) und auch noch kompliziert (also schwierig zu lösen): Wie adressieren wir die Klimakrise, bekommen den Energiemix hin, reduzieren Verbrauch und Konsum, lösen unerträgliche Ungleichheiten auf – und all das in einem weltweiten System? Wie können wir den digitalen Wandel souverän gestalten, in den vielfältigen Abhängigkeiten von Firmen, die aus den USA und China kommen und die uns ihre Marktbedingungen im Grunde diktieren können? Und allem voran, wer entwirft das Gesellschaftsbild, das uns in Zukunft als Grundlage dienen soll? Wo findet der Diskurs darüber statt? Wohin gehen all diejenigen, die Lust daran haben sich einzubringen? Wo entstehen die Lösungen?

Unsere Lösungsprozesse haben sich dieser herausfordernden Weltlage nicht angepasst. Weder in der Politik, noch in Unternehmen, auch nicht in anderen gesellschaftlichen Institutionen. Vereins- und Parteimitgliedschaften ebenso wie kirchliches Gemeindeleben nehmen kontinuierlich ab und digitale Plattformen haben keinen neuen Diskursraum eröffnen können. Nicht in der Quantität (70-80% der Deutschen nutzen Twitter bzw. Facebook nie) und definitiv nicht in der Differenziertheit. Und doch dienen sie als Verstärker von Stimmungen, Referenzraum für manifeste Meinungen. Lösungen entstehen trotz aller Lautstärke nicht.

Dazu braucht es Räume, wo Diskurs in einer offenen und wertschätzenden Atmosphäre gelingt. Es gibt diese Lust an der Auseinandersetzung bei vielen Menschen, das Interesse am Gemeinwohl und die Suche nach der Verortung ihrer Einsatzbereitschaft. Die Frage danach wie wir zukünftig leben wollen umtreibt viele, die um so mehr zu motivieren sind, wenn es Begegnungsformen gibt, die tatsächliche Veränderung ermöglichen.

Niemand kann sich zu allem ein umfassendes Bild machen, sich jederzeit differenziert auseinandersetzen. Deshalb braucht es Orte, Plattformen, Stimmen, die das für uns tun. Die uns helfen zu verstehen, zu sortieren, einzuordnen. Die Wissen, Können, Erfahrung, Frische, Unterschiedlichkeit einbringen und Vertrauen möglich machen, weil es um die Sache geht. Und um uns.

Eine solche Plattform gibt uns nicht nur die Möglichkeit des gemeinsamen Tiefer- und Weiterdenkens, sondern auch die Chance konkreter Lösungen für eine Vielzahl von Problemen zu finden.

Und im besten Fall schafft sie sogar ein Gegengewicht gegen Verknappung und Verurteilung, indem sie mit Optimismus auf Veränderung schaut und mit Wertschätzung auf Entscheidungsträger. Meist ist ein ganzes Bild schon ein anders Bild.